Schatzjäger 2011 Pt. 2

Oberst Leonid Leonow warf einen Blick auf die Leuchtzeiger seiner Tag Heuer Carrera und sah dann in den dunklen Nachthimmel hinauf. Es blieb ihnen noch eine Stunde bis zum Morgengrauen, vielleicht etwas mehr in diesem scheußlichen Wetter. Es wurde Zeit, zusammenzupacken und zu verschwinden, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, von irgendwelchen Jägern oder anderen Frühaufstehern gesehen zu werden, die sich auf den Weg zu den nahe gelegenen Teichen gemacht hatten.

Leonow war ein großer, durchtrainierter Mann mit einer harten Miene und kalten blauen Augen, die ihn als professionellen Soldaten kennzeichneten. Für den Reiz der Landschaft um ihn fehlte ihm jeder Sinn. Angeblich waren diese Teiche sogar ein UNESCO-Weltkulturerbe, das hatte er irgendwo gelesen. Bei dem Gedanken schnaufte er verächtlich und fragte sich, ob demnächst auch Micky Maus ein Weltkulturerbe sein würde. Auf jeden Fall mussten sie hier weg, denn er wusste, dass die Studenten der Universität von Clausthal, die in den Wohnheimen am Stadtrand wohnten, hier zu jeder Tages- und Nachtzeit joggten, egal ob es regnete oder nicht. Schon bei seinen ersten Erkundungen vor Ort war er beinahe einer Gruppe von ihnen in die Arme gelaufen, als er gerade über den Zaun geklettert war. Es hatte ihm gar nicht gepasst, dass sie sein Gesicht gesehen hatten. Dann huschte ein dünnes Lächeln über seine Lippen, als er sich ausmalte, was er mit diesen jungen Leuten gemacht hätte, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, Rücksichten zu nehmen. Es hätte Spass gemacht zu sehen, wie lange sie seine Methoden aushalten würden… 

  Plötzlich knackte ein Zweig, knapp zwanzig Meter hinter ihm, auf der 5-Uhr-Position. Sofort wirbelte der Oberst herum und noch in der Drehung, während sich ihm die Schritte von hinten näherten, fuhr seine Hand in seinen Kampfanzug, wo er eine Glock 21 mit .45er Kaliber trug. Als er die halbe Drehung beendete hatte, zielte die schwere Pistole mit tödlicher Genauigkeit auf den Kopf des Mannes, der durch das feuchte Gelände stapfte. Einen Augenblick später erkannte Leonow den jungen Mann, der arglos auf ihn zukam.

Irritiert steckte er die Pistole wieder ein, dann wischte er sich mit dem Handrücken den Regen aus den Augen und musterte Augustyn Jewkow, einen jungen Mann Anfang Zwanzig aus Minsk, der jetzt Haltung annahm und zackig vor ihm salutierte. Jewkow, ein begnadeter Radaranalytiker, war das jüngste Mitglied des Trupps, den Leonow in den letzten Nächten in die alte Sprengstofffabrik geführt hatte. In den zwei Wochen hatte er rasch gelernt, sich zu benehmen. Der Oberst freute sich, dass er ihm, seinem Vorgesetzten, den nötigen Respekt erwies und dass er Disziplin kannte. Das war gut, denn Leonow verlangte von seinen Leuten beides im hohen Maß - Respekt und Disziplin. Warum also, war der Kerl dann so plötzlich hier aufgetaucht?

„Haben Sie sich verlaufen?“, brummte Leonow und hob eine in Plastik gebundenen Landkarte auf, die er mit dem Gelände abgeglichen und beim Ziehen fallen gelassen hatte. Ruhig verstaute er sie in der Innentasche seines Militärparkas, so als habe er sie nur aus Versehen fallen lassen.

„Ein Gespräch für Sie, Herr Oberst“, meldete der junge Mann und reichte ihm ein Satellitentelefon, das unabhängig von den deutschen Telefonnetzen funktionierte und daher nicht zurückverfolgt werden konnte. Jewkow, der auch für die Kommunikation zuständig war, hatte für das anstandslose Funktionieren der Telefone zu sorgen. Er war sicher einer der begabtesten seiner Männer, was den Umgang mit technischem Gerät anging, und er hatte großes Talent bewiesen, als es darum ging, die Werte des Bodenradars, die sie jede Nacht sammelten, auszuwerten und in ein vernünftiges Bild umzusetzen.  

Leonow nickte ihm knapp zu und streckte die Hand aus, um das Telefon entgegen zu nehmen. Mit dieser wortkargen Geste verbarg er sein Erstaunen, denn obwohl er den Anruf erwartet hatte, war er doch überrascht, wie früh er kam. Er hatte gedacht, dass sie mindestens noch eine Woche Zeit für ihre Arbeit hatten. So bewahrte er eine eiserne Miene und entließ Jewkow mit einem Nicken. Der junge Mann salutierte noch einmal, dann verschwand er und Leonow beantwortete den Anruf.

„Aljo“, brummte er in das Telefon und hörte dann die vertraute, heisere Stimme seines Auftraggebers.

„Er kommt. 12.55 Uhr, Hannover, mit einer Maschine aus Birmingham“, murmelte der alte Mann.

„Ya budu tam“, entgegnete Leonow. „Ich werde da sein.“ Dann beendete er ohne jeden weiteren Gruß das Gespräch. Mit raschen Schritten marschierte er in Richtung der großen Halle der alten, verfallenen Fabrik und wandte sich dort an Lew Tzarkas, seinen Leutnant. Genau wie Leonow war Tzarkas ein ehemaliges Mitglied der einst so glorreichen russischen Armee, doch jetzt bot er seine bei der Armee erlernten Fähigkeiten auf dem freien Markt an. Er arbeitete bereits zum dritten Mal mit Leonow zusammen, und abgesehen davon, dass der hünenhafte Mann aus St. Petersburg darauf bestand, mit seinem ehemaligen Titel angeredet zu werden, hatte Tzarkas bei seinen Unternehmen mit Leonow nie etwas zu klagen gehabt. Der Oberst erledigte seine Aufträge effizient, rasch und mit einträglichem Ergebnis.

„Wir packen zusammen“, befahl der Oberst jetzt. „Wir kommen heute Nacht wieder.“

„Jawohl“, quittierte Tzarkas den Befehl und deutete einen Salut an, der gerade ehrerbietig genug war, um nicht den Zorn hinter den sonst so emotionslosen Augen des Obersts zu wecken. Der Leutnant wusste, dass Geheimhaltung im Moment von höchster Bedeutung war und dass sie sich deswegen zurückziehen mussten. Obwohl das Gelände, auf dem sie sich befanden, abgesperrt war, gab es immer wieder Fotografen, Maler oder Abenteuerlustige, die sich über das Verbot hinwegsetzten und die Fabrik, die einmal einer der größten Sprengstofffabriken des Dritten Reichs gewesen war, auch ohne Erlaubnis besichtigten. 

Es wäre fatal, wenn auch nur einer dieser Neugierigen auf seine Leute mit der unübersehbaren technischen Ausrüstung träfe. Eine Elimination des Eindringlings wäre dann unausweichlich, aber keinesfalls erstrebenswert, da die Entsorgung solch eines Eindringlings immer mit Schwierigkeiten verbunden war.

Daher packte der Trupp von zehn Mann, die alle in Militäruniformen ohne Rang- und Hoheitsabzeichen gekleidet waren, die schwere Ausrüstung wieder zusammen. Die Männer schulterten die Pakete und machten sich auf den Weg zu dem abgelegenen Zaun, beim dem sie gestern Nacht in das Gelände eingedrungen waren, so wie sie das in den Nächten zuvor auch getan hatten. Nach einem weiteren Marsch von 30 Minuten durch den nächtlichen Wald gelangten sie wieder zur Bundesstraße, an der sie ihre Fahrzeuge, vier silberne Grand Cherokee Jeeps, geparkt hatten. Es war Routine, dass sich der Trupp jedesmal ohne ein weiteres Wort zu wechseln aufteilte und mit den Wagen in unterschiedliche Richtungen davon fuhr, damit die Männer in verschiedenen Orten ihre Zimmer beziehen und ein paar Stunden schlafen konnten.

  Auch Oberst Leonow und Leutnant Tzarkas fuhren wie an jedem Tag in den letzten zwei Wochen in ihr Hotel zurück, das südlich des kleinen Ortes Seesen lag, gut 20 Kilometer von Clausthal-Zellerfeld und der Fabrik entfernt. Ruhig und konzentriert steuerte der Oberst den Jeep durch die noch schlafende Bergstadt, vorbei an der alten Holzkirche, die von den beiden ehemaligen Soldaten keines Blickes gewürdigt wurde, und hinaus aus dem Ort, bis sie auf der kurvigen B 242 die Berge hinabfuhren. Erst als die Straße sie aus dem Harz führte und sie die Berge hinter sich hatten, wandte sich Leonow wieder an seinen Leutnant.

„Das Paket kommt heute in Hannover an. Wir sollen es abholen.“

„Heute schon?“ Im Gegensatz zu dem Oberst verbarg Tzarkas seine Überraschung nicht. 

Leonow nickte und  dann breitete sich ein Grinsen über dem Gesicht des Leutnants aus und er fühlte unwillkürlich die Glock, die auch er unter seinem Parka verborgen hatte.

„Das wird bestimmt ein Spaß“, stellte er überflüssigerweise fest. Als ihm das auffiel, machte er sich schon auf eine Zurechtweisung von Leonow gefasst, doch diesmal nickte der Oberst sogar. Jetzt war sich der Leutnant sicher - es würde ein Spaß, das Paket abzuholen. Nur für das ‚Paket‘ selbst,  für Colonel Daniel Kendrick-Wales, würde es sicherlich nicht lustig werden.

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Tatsächlich wartete im Flughafen noch zwei Männer auf Colonel Kendrick-Wales. Oberst Leonid Leonow und Leutnant Lew Tzarkas versuchten ihr Bestes, um nicht aufzufallen, aber man sah ihnen an, dass sie sich sich in Zivilkleidung nicht wohl fühlten. Sie trugen ihre gebügelten Jeans und tadellosen T-Shirts, als wären sie etwas Fremdes, etwas, das man am liebsten rasch wieder loswerden möchte. Selbst die vielen fröhlichen Touristen in kurzen Hosen und Sandalen, die mit Sonnenhüten und ausgelassenem Lachen an ihnen vorbeimarschierten, schafften es nicht, ihre Stimmung soweit zu bessern, dass sie sich auch nur den Anschein von Lockerheit gaben. 

Niemand hätte in den beiden Männern, die bei den beiden Coca Cola-Automaten standen, etwas anderes vermutet als Polizisten oder Soldaten. Ein kleiner Junge von vielleicht zehn Jahren, der schon das Geld parat hatte, um sich eine Fanta zu holen, schreckte unwillkürlich vor den beiden zurück und überlegte sich dann, dass er die nächsten Minuten auch ohne ein Getränk aushalten konnte.

„Wie erkennen wir ihn?“ fragte Tzarkas schließlich, nachdem die beiden sich mit finsteren Mienen fast zehn Minuten angeschwiegen hatten.

„Ich erkenne ihn schon“, brummte der Oberst und legte eine Hand auf die Tasche seiner Jacke, in der sich ein Foto des Colonels befand. 

Tzarkas nickte, denn das war alles, was er wissen wollte. Solange von ihm nicht verlangt wurde, den Colonel zu identifizieren, würde er sich auch nicht darum reissen, dafür wurde er schließlich nicht bezahlt. Dann merkte der Leutnant, dass Leonows Haltung sich versteifte und er zur Tür sah, die den Wartebereich vom Terminal trennte. Dort verließen gerade die ersten Passagiere des Flugs aus Birmingham den Sicherheitsbereich.

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Als sich die Türen des Terminals zum ersten Mal öffneten, um die Passagiere aus Birmingham auszuspucken, beförderte Jarre Behrend seinen Kaffeebecher mit einem gekonnten Wurf über vier Meter in einen Papierkorb, dann setzte er sein bestes Lächeln auf, um den Colonel zu empfangen. Er hatte sogar sein bestes Tweed-Jackett angezogen, das er im Kofferraum mitgebracht hatte. Noch hatte er den Colonel nicht ausgemacht, aber die Maschine aus Birmingham war nicht groß, und es konnte nicht lange dauern, bis er kam.

Zuerst verließ ein attraktives Pärchen Anfang Zwanzig die Ankunftshalle. Lachend und mit einem Wagen voller Gepäck steuerten sie auf den Ausgang zu. Dann folgte ein gemütlich aussehender Mann mit rotem Rauschebart, den Behrend sofort für einen Schotten hielt. Für einen Soldaten jedoch sah er viel zu nett aus. Zwei Geschäftsmänner folgten, doch dann sah Jarre einen drahtigen Mann mit hellem Haar und dünnem Schnurrbart, der kaum größer als 1,75 Meter war - Alec Guinness! Noch während Behrend darüber nachdachte, dass es eigentlich verboten sein sollte, dass Klischees sich so widerspruchslos erfüllten, öffneten sich die Türen des Terminals, um den Colonel herauszulassen. Als Behrend auf ihn zutrat, um ihn zu begrüßen, sah er, dass der Mann vor ihm sonst wenig Ähnlichkeit mit dem Schauspieler hatte. Er war kantiger, und ein harter Zug um die Augen verriet, dass er es gewohnt war, zu befehlen und Gehorsam zu bekommen. 

„Colonel Kendrick-Wales?“ fragte Behrend, worauf sich die Lippen seines Gegenübers ein paar Millimeter hoben und er nickte. Behrend hatte mit seiner Annahme, dass alle englischen Colonels gleich aussahen, also Recht behalten.

„Und Sie müssen Jarre Behrend sein“, stellte der Colonel fest und machte mit seinem eindeutig walisischen Akzent aus Jarres Namen ein wahres Kauderwelsch. Jarre zuckte innerlich zusammen, sagte sich aber, dass er lieber ‚Jerry‘ genannt wurde, als dass jemand versuchte, seinen Namen französisch auszusprechen, so als sei er ein bekannter Musiker. Er bestätigte also, dass das sein Name sei, und nachdem Kendrick-Wales zugegeben hatte, dass er einen ruhigen Flug gehabt habe, waren alle Formalitäten erledigt.

„Wenn Sie nichts dagegen haben, bringe ich Sie gleich in Ihr Hotel in Bad Grund. Das ist ein kleiner Kurort, wo ich ein kleines Apartment in einem Parkhotel für Sie gebucht habe, das unsere Ausgangsbasis sein wird. Die Fahrt dauert kaum länger als eine Stunde. Ich hoffe, das ist in Ordnung?“ 

Jarres Frage war rein rhetorisch, da der Zeitplan genau so schon seit längerem vereinbart war. Der Colonel hatte klar zum Ausdruck gebracht, dass er keine Lust hatte, mit Unsinn seine Zeit zu verschwenden, und so war Jarre noch nicht einmal seine übliche Hannover-Tour „Bauboom oder Bausünde?“ losgeworden. Er brachte den Colonel zum Tiguan und die beiden hatten dabei kaum eine Chance zu merken, wie zwei wütende Blicke ihnen nach draußen folgten.

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„Der’mo!“ grollte Tzarkas. „Warum ist der nicht allein?!“

„So war es nicht geplant“, stieß Leonow zwischen den Zähnen hervor, voller Ärger über seinen durchkreuzten Plan. Der Deutsche, der den Colonel begrüßte hatte, machte es ihnen unmöglich, Kendrick-Wales gleich hier und jetzt in ihre Gewalt zu bringen. Hätten sie den Deutschen ausschalten wollen, hätte sie nun eventuell ihre Schusswaffen benutzen müssen, und das musste unter den wachsamen Augen der Flughafenpolizei auf jeden Fall vermieden werden. Die Deutschen spaßten mit so etwas nicht.

„Los!“, befahl Leonow dem Leutnant. Er selbst war schon am Laufen, als er seine Wagenschlüssel aus der Tasche holte. Als die beiden Männer Augenblicke später in den Jeep kletterten, sahen sie, wie Behrend ein paar Parkplätze weiter den Koffer des Colonels in seinen Tiguan packte. Er setzte zurück und der Oberst warf einen Blick auf Jarres Kennzeichen.

„H-JB 666“, knurrte Leonow und drückte Tzarkas ein Telefon in die Hand. „Find heraus, wer das ist. Vielleicht ist er ja eine Gefahr.“ Er wartete noch, bis der Tiguan in die Ausfallstraße eingefädelt hatte, dann gab er Gas und folgte Jarre und dem Colonel aus dem Flughafen hinaus zur Autobahn.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Kapitel Eins

 

Als er auf die Terrasse des kleinen Hotels in Bad Grund trat, spürte Jarre Behrend einen nicht sehr willkommenen kalten Wind, der versuchte, durch sein Jackett zu dringen. Zugegeben, der Regen hatte sich gelegt, und es war sogar so etwas wie blauer Himmel zu erkennen, wenn man sich nur Mühe gab, die richtige Stelle zwischen den Wolken auszumachen. Außerdem besaß Colonel Kendrick-Wales natürlich die typisch britische Unerschütterlichkeit, was den Umgang mit schlechtem Wetter betraf. Bestimmt würde er auch bei zehn Grad noch in kurzen Hosen herumlaufen, nur weil Sommer war. All das wußte Behrend, aber er war dennoch nicht gerade begeistert, dass sich der ehemalige Soldat entschlossen hatte, das Abendessen auf der Terrasse einzunehmen. Dort waren es gewiss keine zwanzig Grad mehr, und man musste schon sehr abgehärtet sein, um ein Abendessen bei halbarktischen Temperaturen zu genießen.

Ihre Wirtin, die Jarre gerade noch ungläubig gefragt hatte, ob sie denn wirklich draußen essen wollten, sah das offenbar genauso, aber Jarre wusste natürlich auch, dass der Kunde König war, und so schenkte er der Frau sein bestes Lächeln und behauptete, dass es draußen doch ganz wunderbar sei. Dann knöpfte er sein Jackett zu und gesellte sich zum Colonel.

„Oh, hallo Jerry“, begrüßte der Offizier ihn und wies auf dem Platz neben sich, wo schon ein Gin & Tonic auf Jarre wartete. Jarre grinste, denn Kendrick-Wales wusste offenbar, wie man einen Abend richtig gestaltete und wie man mit der Kälte umging. 

Jarre nahm dankbar Platz und betrachtete dann fasziniert die verschiedensten Papierstapel, die der Colonel um sich herum verteilt hatte. Überall lagen Fotos, Landkarten und zahllose Zettel mit handschriftlichen Notizen. Er hatte fast schon ein schlechtes Gewissen, weil das einzige Papier, das er mitgebracht hatte, das Programm der nächsten Tage betraf.

Mit einem entschuldigendem Lächeln schob der Colonel ein paar Papiere hin und her, als er sah, dass er für Jarre keinen Platz gelassen hatte, aber ohne großes Ergebnis. Jarre fand trotzdem einen freien Stuhl und erkundigte sich, ob die Papiere ihre Exkursionen beträfen, was der Colonel natürlich bestätigte. Jarre nutzte die Gelegenheit, um auf das Programm für die nächsten Tage zu sprechen zu kommen.

„Ich muss sagen, Ihre Liste hat mich tatsächlich sehr beeindruckt - und mir viel Arbeit gemacht“, erklärte er auf Englisch, als er die Liste aus seinem Jackett holte. Er strich sie auf dem Tisch glatt und sah Kendrick-Wales genau an. „Sie enthält viele spannende und interessante Plötze, und einige Orte, von denen ich noch nie etwas gehört habe, und das obwohl ich schon ein paar Jahre mit meinen Touren im Harz unterwegs bin.“

Kendrick-Wales ließ ein dünnes Lächeln sehen. „Das mag daran liegen, dass es eine sehr persönliche Liste ist. Die Orte hängen sehr mit meiner persönlichen Geschichte zusammen. Das ist alles etwas kompliziert zu erklären“, erklärte er geheimnisvoll. 

Behrend nickte in einer Weise, die besagen sollte, dass er zwar die Privatangelegenheiten es Colonels durchaus respektierte, dass er die Geheimniskrämerei aber trotzdem nicht verstand. Dann fuhr er fort, während er die Liste durchging.

„Ein Besuch des Welfenschlosses in Herzberg war recht einfach zu organisieren, der steht morgen früh auf dem Programm. Aber das hier - Werk Tanne bei Clausthal? Das ist auch heute noch gesperrtes Territorium, und ich brauchte eine Sondergenehmigung für die Besichtigung. Trotzdem werden wir am morgigen Nachmittag dorthin gehen, ich habe eine Führung organisiert. Ansonsten werden wir wohl viel Zeit unter Tage verbringen. Ich habe die nötige Ausrüstung dabei, und ich habe auch die Genehmigungen bekommen. Nur dieser Stollen hier, den Sie als ‚Stollen VII‘ bezeichnen, und der an der Rappbode-Talsperre liegt… Das war ein echter Geheimtipp. Wenn ich das richtig sehe, sind die beiden einzigen lebenden Menschen, die überhaupt von dem Stollen wissen, im Moment hier am Tisch versammelt. Nicht einmal das Bergamt weiß, dass es ihn gibt. Ich habe den Zugang letzte Woche aber gefunden…“ Er konnte sich an die nasskalte Kletterpartie gut erinnern und hoffte auf besseres Wetter, wenn sie die Tour in ein paar Tagen wiederholten.

„Es mag wohl sein, dass dieser Stollen nicht sehr bekannt ist…“, gab der Colonel zu. „Aber ist das ein Problem für Sie? Ich freue mich jedenfalls, dass Sie ihn gefunden haben.“

„Ein Problem? Nein, gewiss nicht. Ich bin immer gerne bereit, Neues kennen zu lernen.“

„Sehr schön. Trevor Haines hat mir von Ihrer Abenteuerlust und Ihrer Zuverlässigkeit berichtet. Trevor und ich kennen uns schon lange, und ich weiß sein Urteil zu schätzen.“ Jarre nickte knapp, um sich für das Kompliment zu bedanken. „Außerdem habe ich die römischen Rüstungen gesehen, die er mit ihrer Hilfe gefunden hat. Sehr beeindruckend, wirklich.“

„Glauben Sie mir, mir hat die Expedition mit Trevor und Gerald ebenso viel Spaß gemacht, wie den beiden. Es gibt auch für mich immer wieder Überraschungen bei solchen Abenteuern. Deswegen mache ich den Job ja“, erklärte er mit einem jungenhaften Grinsen.

„Genau das hat mir Trevor auch gesagt. Ich…“ Kendrick-Wales unterbrach sich, als er sah, dass ihre Wirtin den ersten Gang des Abendessens brachte, eine niedersächsische Hochzeitssuppe. „Ich denke, wir können unsere Pläne am besten nach dem Essen besprechen“, beendete er den Satz schließlich. 

Natürlich wusste Jarre, dass er etwas anderes sagen wollte, aber es konnte ihm nur recht sein, erst einmal etwas zu essen. Bislang war noch jeder Klient besserer Laune gewesen, wenn er den Magen voll hatte, und er war gespannt, wie jemand, der dreißig Jahre lang bei der britischen Armee gegessen hatte, auf die niedersächsischen Spezialitäten reagieren würde, die Behrend im Voraus bestellt hatte. Nach der Suppe würde es Wild geben, und zum Abschluss eine Welfenspeise. Sehr lecker, aber nicht sehr Englisch. Danach konnte man sich noch immer der 43-prozentigen, original schottischen Delikatesse aus Ardmore widmen, die er ebenfalls mitgebracht hatte.

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Im Moment konnte Leutnant Lew Tzarkas ihrem Auftrag nicht viel abgewinnen. Das lag auch daran, dass es sie in einen Ort verschlagen hatte, von dem er noch nicht einmal gewusst hatte, dass es ihn gab. Bad Grund war eine echte Oberharzer Bergstadt und damit ein Ort, der einst viele Privilegien besessen hatte, und als eine der ältesten Städte im Harz hatte das Städtchen über 700 Jahre einer wechselvollen Geschichte hinter sich, doch eines war der Ort nie gewesen - eine große Stadt. Jetzt wohnten gerade einmal 2.500 Menschen hier, von denen viele alt waren und die meisten ihr Geld mit Tourismus verdienten. Es war klar, dass unter diesen friedlichen Menschen zwei grimmig aussehende slawische Ex-Soldaten, die stundenlang in einem silbernen Grand Cherokee Jeep saßen, zwangsläufig auffallen mussten. 

Leutnant Lew Tzarkas wurde das klar, als er eine alte Dame sah, die bereits zum zweiten Mal an diesem Abend an ihrem Auto vorbeikam und sie mit unverhohlenem Misstrauen ansah. Hätte sie ihren Stock nicht zum Gehen gebraucht, hätte sie ihn bestimmt in ihre Richtung geschüttelt und sie aufgefordert, von hier zu verschwinden, dachte Tzarkas.

„Wir fallen auf“, brummte er an Leonow gewandt. Der Oberst sagte lange nichts und starrte nur mit verkniffenem Mund geradeaus, hinüber zum Parkhotel. Er hatte einen flachen Kopfhörer auf, der mit dem Kasten verbunden war, der Teil des Spy Lizer Richtmikrofons war, mit dem er das Gespräch zwischen Kendrick-Wales und dem Deutschen abhörte, die in Sichtweite auf der Terrasse saßen.

„Wenn die alte Frau dort nicht die Polizei holt, dann bestimmt die Leute, die da drüben arbeiten“, fuhr Tzarkas fort. Er wies auf das Kurzentrum und sah den Oberst fordernd an, bis der schließlich nickte. 

„Da. Du hast Recht. Hier können wir sie nicht weiter beschatten. Aber ich weiß jetzt auch genug. Ich weiß, wo sie morgen hin wollen, und dort werden wir sie gebührend empfangen, wenn sie dort ankommen.“ Er zog sich die Kopfhörer vom Kopf und drückte sie Tzarkas in die Hände, zusammen mit dem Richtmikrofon. „Morgen werden wir sie kriegen. Und wenn wir sie kriegen, töten wir sie. Das wird gut.“ 

Dieser Gefühlsausbruch Leonows zeigte seinem Leutnant, wie aufgebracht der Mann neben ihm war. Seit sie im Flughafen den Colonel gehen lassen mussten, war Leonow übelster Laune, und nicht nur das - er war nervös. Tzarkas beobachtete das unruhig, denn so hatte er ihn noch nie gesehen. 

Vielleicht lag es aber auch nur an diesem seltsamen Auftrag, bei dem sie ständig unter größter Geheimhaltung in der Erde wühlen und Geheimverstecke ausfindig machen mussten, und das alles auf Geheiß eines Mannes, den nur Leonow kannte. Tzarkas konnte nur hoffen, dass die Geschichte bald vorbei war. 

So, als wolle er diesen Gedanken bekräftigen, startete Leonow jetzt den Jeep, der mit einem tiefen Brummen ansprang. Dann gab der Oberst unnötig viel Gas, um den Wagen aus dem Ort heraus und auf die Bundesstraße zu bringen. Doch Leutnant Tzarkas blieb in Gedanken versunken, denn zum ersten Mal seit er ihn kannte, machte der Oberst und seine Stimmungen ihm Angst.

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