Dienstag, 07. Juni 2011
Als die Sonne schon längst über Aqtöbe am Rand der kasachischen Steppe aufgegangen war, herrschte in dem Büro noch immer eine beklemmende Dunkelheit. Die hölzernen Fensterläden, die die vier großen Fenster des Raumes verschlossen, ließen wenig von dem warmen Licht dieses Sommertags herein. Schon seit vielen Jahren waren die Helligkeit und Wärme des Frühlings und des Sommers in diesem Haus nicht willkommen.
In dem Büro saß ein alter Mann, dessen Haut so durchscheinend blass war, dass sie fast so weiß wirkte, wie die dünnen Locken, die seinen Kopf umrahmten. Der Mann saß zusammengesunken hinter einem Schreibtisch, der fast die ganze Stirnseite des Zimmers einnahm. In seinen nervösen Händen hielt der Mann ein Stück Papier. Es war das einzige Papier auf der riesigen Arbeitsplatte und der alte Mann betrachtete es mit einer Miene, als würde das Blatt für ihn alles Böse dieser Welt symbolisieren. Und tatsächlich tat es das auch.
Der Mann wusste nun, dass die Vergangenheit ihn schließlich eingeholt hatte, wenn auch auf eine ganz unerwartete Weise. Er hatte nie geglaubt, dass die Geister, die seinen Vater seit über fünfzig Jahren plagten, auch ihn eines Tages heimsuchen würden, doch jetzt war es so weit.
Noch einmal sah er auf das Blatt. Es war die Kopie eines Zeitungsartikels aus der ‚Diapasone’, eine der wenigen unabhängigen Zeitungen der Stadt. ‚Wertvolles Reliquiar aus Deutschland in Aqtöbe gefunden‘ lautete die Überschrift.
Der Artikel beschrieb, wie die Familie von General Rishkov, einem verdienten Veteranen der Roten Armee, der letztes Jahr im Alter von 92 Jahren gestorben war, unter dem Nachlass des Generals ein besonders wertvolles Reliquiar gefunden hatte. Die Enkelin des Generals hatte den Fund Experten der Universität vorgelegt, die nun nach langen Untersuchungen zu dem Schluss gekommen waren, dass das Reliquiar ein überaus wertvolles Stück sein, das vermutlich im frühen 15. Jahrhundert in Deutschland gefertigt wurde. Dabei verwiesen die Experten auf ein Inventar des sogenannten ‚Welfenschatzes‘ aus dem Jahr 1574, dass ein Stück dieser Art genau beschreibe.
Hier endete der Artikel, aber der alte Mann musste nicht mehr wissen. Der Fund würde in Europa bald bekannt werden, und Raissa Rishkova würde dadurch zu einer bekannten Frau werden. Fragen nach der Herkunft des Reliquiars würden gestellt werden, und dann würde auch Colonel Kendrick-Wales, der schon seit Langem die Nemesis seines Vaters war, auf ihre Spur kommen, und er würde diese Spur ohne Zweifel bis zum Werk Tanne weiterverfolgen, wo einst alles angefangen hatte.
Er selbst hatte heute in aller Frühe mit Raissa gesprochen, und sie hatte ihm die ganze Geschichte erzählt. Seitdem wusste er, was er tun musste. Er würde jemanden nach Deutschland schicken, in den Harz zum Werk Tanne, und er würde dafür sorgen müssen, dass Colonel Kendrick-Wales nicht zu viel erfuhr. Noch einmal nickte der alte Mann, so als müsse er sich selbst Mut zusprechen, dann griff er zum Telefon. Er hatte keinen Zweifel, dass Oberst Leonow ihm helfen würde.
Kapitel Eins
Oberst Leonid Leonow warf einen Blick auf die Leuchtzeiger seiner Tag Heuer Carrera und sah dann in den dunklen Nachthimmel hinauf. Es blieb ihnen noch eine Stunde bis zum Morgengrauen, vielleicht etwas mehr in diesem scheußlichen Wetter. Es wurde Zeit, zusammenzupacken und zu verschwinden, wenn sie nicht Gefahr laufen wollten, von irgendwelchen Jägern oder anderen Frühaufstehern gesehen zu werden, die sich auf den Weg zu den nahe gelegenen Teichen gemacht hatten.
Leonow war ein großer, durchtrainierter Mann mit einer harten Miene und kalten blauen Augen, die ihn als professionellen Soldaten kennzeichneten. Für den Reiz der Landschaft um ihn fehlte ihm jeder Sinn. Angeblich waren diese Teiche sogar ein UNESCO-Weltkulturerbe, das hatte er irgendwo gelesen. Bei dem Gedanken schnaufte er verächtlich und fragte sich, ob demnächst auch Micky Maus ein Weltkulturerbe sein würde. Auf jeden Fall mussten sie hier weg, denn er wusste, dass die Studenten der Universität von Clausthal, die in den Wohnheimen am Stadtrand wohnten, hier zu jeder Tages- und Nachtzeit joggten, egal ob es regnete oder nicht. Schon bei seinen ersten Erkundungen vor Ort war er beinahe einer Gruppe von ihnen in die Arme gelaufen, als er gerade über den Zaun geklettert war. Es hatte ihm gar nicht gepasst, dass sie sein Gesicht gesehen hatten. Dann huschte ein dünnes Lächeln über seine Lippen, als er sich ausmalte, was er mit diesen jungen Leuten gemacht hätte, wenn er nicht gezwungen gewesen wäre, Rücksichten zu nehmen. Es hätte Spass gemacht zu sehen, wie lange sie seine Methoden aushalten würden…
Plötzlich knackte ein Zweig, knapp zwanzig Meter hinter ihm, auf der 5-Uhr-Position. Sofort wirbelte der Oberst herum und noch in der Drehung, während sich ihm die Schritte von hinten näherten, fuhr seine Hand in seinen Kampfanzug, wo er eine Glock 21 mit .45er Kaliber trug. Als er die halbe Drehung beendete hatte, zielte die schwere Pistole mit tödlicher Genauigkeit auf den Kopf des Mannes, der durch das feuchte Gelände stapfte. Einen Augenblick später erkannte Leonow den jungen Mann, der arglos auf ihn zukam.
Irritiert steckte er die Pistole wieder ein, dann wischte er sich mit dem Handrücken den Regen aus den Augen und musterte Augustyn Jewkow, einen jungen Mann Anfang Zwanzig aus Minsk, der jetzt Haltung annahm und zackig vor ihm salutierte. Jewkow, ein begnadeter Radaranalytiker, war das jüngste Mitglied des Trupps, den Leonow in den letzten Nächten in die alte Sprengstofffabrik geführt hatte. In den zwei Wochen hatte er rasch gelernt, sich zu benehmen. Der Oberst freute sich, dass er ihm, seinem Vorgesetzten, den nötigen Respekt erwies und dass er Disziplin kannte. Das war gut, denn Leonow verlangte von seinen Leuten beides im hohen Maß - Respekt und Disziplin. Warum also, war der Kerl dann so plötzlich hier aufgetaucht?
„Haben Sie sich verlaufen?“, brummte Leonow und hob eine in Plastik gebundenen Landkarte auf, die er mit dem Gelände abgeglichen und beim Ziehen fallen gelassen hatte. Ruhig verstaute er sie in der Innentasche seines Militärparkas, so als habe er sie nur aus Versehen fallen lassen.
„Ein Gespräch für Sie, Herr Oberst“, meldete der junge Mann und reichte ihm ein Satellitentelefon, das unabhängig von den deutschen Telefonnetzen funktionierte und daher nicht zurückverfolgt werden konnte. Jewkow, der auch für die Kommunikation zuständig war, hatte für das anstandslose Funktionieren der Telefone zu sorgen. Er war sicher einer der begabtesten seiner Männer, was den Umgang mit technischem Gerät anging, und er hatte großes Talent bewiesen, als es darum ging, die Werte des Bodenradars, die sie jede Nacht sammelten, auszuwerten und in ein vernünftiges Bild umzusetzen.
Leonow nickte ihm knapp zu und streckte die Hand aus, um das Telefon entgegen zu nehmen. Mit dieser wortkargen Geste verbarg er sein Erstaunen, denn obwohl er den Anruf erwartet hatte, war er doch überrascht, wie früh er kam. Er hatte gedacht, dass sie mindestens noch eine Woche Zeit für ihre Arbeit hatten. So bewahrte er eine eiserne Miene und entließ Jewkow mit einem Nicken. Der junge Mann salutierte noch einmal, dann verschwand er und Leonow beantwortete den Anruf.
„Aljo“, brummte er in das Telefon und hörte dann die vertraute, heisere Stimme seines Auftraggebers.
„Er kommt. 12.55 Uhr, Hannover, mit einer Maschine aus Birmingham“, murmelte der alte Mann.
„Ya budu tam“, entgegnete Leonow. „Ich werde da sein.“ Dann beendete er ohne jeden weiteren Gruß das Gespräch. Mit raschen Schritten marschierte er in Richtung der großen Halle der alten, verfallenen Fabrik und wandte sich dort an Lew Tzarkas, seinen Leutnant. Genau wie Leonow war Tzarkas ein ehemaliges Mitglied der einst so glorreichen russischen Armee, doch jetzt bot er seine bei der Armee erlernten Fähigkeiten auf dem freien Markt an. Er arbeitete bereits zum dritten Mal mit Leonow zusammen, und abgesehen davon, dass der hünenhafte Mann aus St. Petersburg darauf bestand, mit seinem ehemaligen Titel angeredet zu werden, hatte Tzarkas bei seinen Unternehmen mit Leonow nie etwas zu klagen gehabt. Der Oberst erledigte seine Aufträge effizient, rasch und mit einträglichem Ergebnis.
„Wir packen zusammen“, befahl der Oberst jetzt. „Wir kommen heute Nacht wieder.“
„Jawohl“, quittierte Tzarkas den Befehl und deutete einen Salut an, der gerade ehrerbietig genug war, um nicht den Zorn hinter den sonst so emotionslosen Augen des Obersts zu wecken. Der Leutnant wusste, dass Geheimhaltung im Moment von höchster Bedeutung war und dass sie sich deswegen zurückziehen mussten. Obwohl das Gelände, auf dem sie sich befanden, abgesperrt war, gab es immer wieder Fotografen, Maler oder Abenteuerlustige, die sich über das Verbot hinwegsetzten und die Fabrik, die einmal einer der größten Sprengstofffabriken des Dritten Reichs gewesen war, auch ohne Erlaubnis besichtigten.
Es wäre fatal, wenn auch nur einer dieser Neugierigen auf seine Leute mit der unübersehbaren technischen Ausrüstung träfe. Eine Elimination des Eindringlings wäre dann unausweichlich, aber keinesfalls erstrebenswert, da die Entsorgung solch eines Eindringlings immer mit Schwierigkeiten verbunden war.
Daher packte der Trupp von zehn Mann, die alle in Militäruniformen ohne Rang- und Hoheitsabzeichen gekleidet waren, die schwere Ausrüstung wieder zusammen. Die Männer schulterten die Pakete und machten sich auf den Weg zu dem abgelegenen Zaun, beim dem sie gestern Nacht in das Gelände eingedrungen waren, so wie sie das in den Nächten zuvor auch getan hatten. Nach einem weiteren Marsch von 30 Minuten durch den nächtlichen Wald gelangten sie wieder zur Bundesstraße, an der sie ihre Fahrzeuge, vier silberne Grand Cherokee Jeeps, geparkt hatten. Es war Routine, dass sich der Trupp jedesmal ohne ein weiteres Wort zu wechseln aufteilte und mit den Wagen in unterschiedliche Richtungen davon fuhr, damit die Männer in verschiedenen Orten ihre Zimmer beziehen und ein paar Stunden schlafen konnten.
Auch Oberst Leonow und Leutnant Tzarkas fuhren wie an jedem Tag in den letzten zwei Wochen in ihr Hotel zurück, das südlich des kleinen Ortes Seesen lag, gut 20 Kilometer von Clausthal-Zellerfeld und der Fabrik entfernt. Ruhig und konzentriert steuerte der Oberst den Jeep durch die noch schlafende Bergstadt, vorbei an der alten Holzkirche, die von den beiden ehemaligen Soldaten keines Blickes gewürdigt wurde, und hinaus aus dem Ort, bis sie auf der kurvigen B 242 die Berge hinabfuhren. Erst als die Straße sie aus dem Harz führte und sie die Berge hinter sich hatten, wandte sich Leonow wieder an seinen Leutnant.
„Das Paket kommt heute in Hannover an. Wir sollen es abholen.“
„Heute schon?“ Im Gegensatz zu dem Oberst verbarg Tzarkas seine Überraschung nicht.
Leonow nickte und dann breitete sich ein Grinsen über dem Gesicht des Leutnants aus und er fühlte unwillkürlich die Glock, die auch er unter seinem Parka verborgen hatte.
„Das wird bestimmt ein Spaß“, stellte er überflüssigerweise fest. Als ihm das auffiel, machte er sich schon auf eine Zurechtweisung von Leonow gefasst, doch diesmal nickte der Oberst sogar. Jetzt war sich der Leutnant sicher - es würde ein Spaß, das Paket abzuholen. Nur für das ‚Paket‘ selbst, für Colonel Daniel Kendrick-Wales, würde es sicherlich nicht lustig werden.
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Als Jarre Behrend aus seinem Tiguan stieg, sah er in den Himmel hinauf und zog eine Grimasse. Es fing schon wieder an zu regnen und das Anfang Juli. Na prima, grollte er, denn er war an diesem Morgen sowieso schon ausgesucht schlechter Laune, und das wurde nicht besser, als er jetzt auf das mächtige Gebäude zuhielt, das sein Ziel war. Die aus gelben Klinkern errichtete Villa, die einst ein Krankenhaus und jetzt das Niedersächsische Landesamt für Denkmalpflege beherbergte, rangierte bei Behrend, einem promovierten Kunsthistoriker, relativ weit oben auf der Liste der grässlichsten Gebäude Hannovers. Der überladende Bau zeichnete sich in Behrends Sicht eigentlich nur dadurch aus, dass man sich sicher sein konnte hier, in der Nähe des Schiffgrabens, nie einen Parkplatz bekommen zu können.
Die Einladung, die er von einem der Dezernenten des Amts bekommen hatte, verhieß ebenfalls keinen angenehmen Morgen. Und warum auch?, fragte er sich grimmig. Es war kalt, es regnete, und er hatte noch nicht gefrühstückt. Warum sollte es dann ein angenehmer Morgen werden? Eigentlich konnte er sich dann auch gleich auf den Weg nach oben machen und pünktlich sein, statt in dem Café gegenüber noch einen doppelten Espresso zu trinken. Schlimmer konnte es kaum noch werden. So war es genau 11 Uhr, als er an die Tür des Büros mit der Nummer 213 klopfte und gleich herein gebeten wurde.
Die beiden Männer, die sich jetzt begrüßten, hätten kaum gegensätzlicher sein können. Während Peter Mendel, der Leiter des Referats für Baudenkmalpflege, ein kleiner, fast kahler Mann war, der einen förmlichen Anzug trug, war Behrend mit seinen 1,88 m wie immer leger gekleidet. Zu seinem dunklen Bottega Veneta Polo-Shirt trug er helle Filson Khakis, die ihn zusammen mit seinem dunklen, unzähmbaren Haar und dem üblichen Bartschatten mehr so aussehen ließen, als sei er auf Urlaub und nicht bei einem offiziellen Termin.
„Herr Dr. Behrend, Sie wissen sicher, warum ich um ein Gespräch mit Ihnen gebeten habe?“, erkundigte sich der Referatsleiter mit exquisiter Höflichkeit, nachdem Behrend Platz genommen hatte.
Jarre nickte zustimmend. „Ich kann es mir denken, ja. Geht es um meine Schreiben wegen des Oesterlein Baus?“ Er wusste, dass der Niedersächsische Landtag von Fachleuten fast immer so genannt wurde, und dass auch die Öffentlichkeit ihn vermehrt unter diesem Namen kannte, seit Pläne bekannt geworden waren, den denkmalgeschützten Bau des bekannten Architekten abzureissen und durch einen neuen, viel zu teuren Neubau zu ersetzen.
„Ja. Wie Sie sagen, Sie haben mehrfach Eingaben hinsichtlich des Umbaus des Niedersächsischen Landtags gemacht…“
„Sicher habe ich das…“, gab Behrend etwas gelangweilt zu. „Es geht in den Schreiben meist um die Gesetze, die ein Gebäude unter Denkmalschutz betreffen. Ich dachte, Ihre Behörde sei die richtige Anlaufstelle für Anfragen dieser Art und…“
Mendel unterbrach ihn mit einer zustimmenden Geste. „Ja, das sind wir auch. Übrigens waren es bislang 57 Eingaben, die Sie gemacht haben, um genau zu sein.“
Behrend sah mit gut gespieltem Erstaunen auf. „So viele? Das überrascht mich. Aber wenn Sie das sagen… Ich habe irgendwann aufgehört zu zählen.“
Mendel wies genervt auf einen vollen Aktenordner auf seinem Schreibtisch. Er trug nur die Aufschrift ‚Behrend‘. „Glauben Sie mir, es sind so viele.“
„Nun, im Laufe der Zeit sind mir halt ein paar Fragen eingefallen… Ich hoffe, ich habe mich nicht wiederholt?“
„Nein, haben Sie nicht. Jede einzelne Eingabe ist durchaus akkurat recherchiert, klar begründet und relevant.“
Jarre sah seinem Gegenüber an, dass er das gar nicht so sehr zu schätzen wusste, wie er glauben machen wollte. Daher ließ Jarre sein breitestes Grinsen sehen. „Ich habe mir jedenfalls viel Mühe gegeben“, erklärte er stolz.
„Das ist offensichtlich, und ich würde sogar Achtung für Ihre Mühen haben, aber es ist…“ Der Beamte unterbrach sich, holte tief Luft und sah Behrend durchdringend an. „Wir möchten, dass Sie aufhören“, erklärte er knapp. „Es reicht, wirklich. Das Landesamt für Denkmalpflege begegnet den Umbauplänen ja selbst mit Skepsis, und da ist uns nicht geholfen, wenn wir jeden Tag eine Eingabe von Ihnen bekommen, die wir bearbeiten müssen.“
„Ich wollte doch nur auf ein paar Punkte aufmerksam machen…“, beklagte sich Behrend mit schlecht gespielter Betroffenheit. Es lohnte sich gewiss nicht, seine Schadenfreude offen zu zeigen, das war ihm klar.
„Es sind durchaus gute Punkte, zugegeben. Auf einige sind wir selbst noch nicht gekommen. Aber Ihr Hang zu Beharrlichkeit macht mir etwas Angst - macht uns etwas Angst, muss ich sagen. Ich habe kürzlich mit einem Kollegen vom Innenministerium gesprochen. Sie haben auch bei ihnen Eingaben gemacht.“
„Wegen der Schließung des Polizeimuseums, ja.“
„Bislang sind es 28 Eingaben.“
„Stimmt, leider war ich nicht sehr produktiv. Aber ich arbeite daran.“ Behrends Grinsen war auch jetzt eine Spur zu breit.
„Ich kann Ihnen schon jetzt verraten, dass der Minister von ihrem kreativen Vorschlag, was er mit Haarmanns Hackebeil machen könnte, nicht sehr angetan war.“
Behrend nickte jetzt reumütig. „Das war zu erwarten…“
„Und deswegen macht sich der Präsident unseres Amts Sorgen. Er befürchtet, dass Sie einen gewissen Hang zur Gewalttätigkeit haben...“
Erstaunt richtete Behrend sich in seinem Sessel auf. „Das meinen Sie doch nicht ernst, oder, Dr. Mendel? Das ist doch nicht das erste Mal, dass wir miteinander sprechen. Sie kennen mich. Halten Sie mich wirklich für gefährlich?“ Mit einer unschuldigen Geste breitete er die Arme aus. „Ich bin eine Seele von einem Menschen.“
Mendel zog es vor, Behrends Statement zu ignorieren. „Gerade weil ich Sie kenne hat man mich gebeten, das Gespräch mit Ihnen zu übernehmen. Ich habe versucht, meine Vorgesetzten zu beruhigen, aber der Präsident ist skeptisch. Er hat mich auf einen Zeitungsartikel aus dem letzten Jahr aufmerksam gemacht.“
Behrend runzelte die Stirn, dann fiel es ihm ein. „Etwa die Sache mit dem Parkscheinautomaten?“
„Genau die.“
„Aber das war doch nur… Sie wissen das doch selbst, überall stehen diese Dinger und nirgendwo kann man vernünftig parken, ohne ein Vermögen loszuwerden. Kleine Geschäfte wie meines leiden darunter, wenn man für einen Besuch teure Parkplätze bezahlen muss“, empörte sich Behrend.
„Und da haben Sie das Gerät, das vor Ihrem Büro steht, zugeklebt?“
„Ja, das habe ich.“ Er sagte es ohne Stolz oder Reue, mehr als eine simple Feststellung einer Tatsache.
„Mit einem halben Dutzend Rollen Klebeband?“
Behrend sah ihn mit großen Augen an und schüttelte den Kopf. „Nein, das ist Quatsch. Es waren gerade einmal zwei Rollen Panzerband. Mehr hatte ich nicht“, fügte er entschuldigend hinzu.
Sein Gegenüber runzelte die Stirn. „Jedenfalls hat Frau Surbier, eine Angestellte des Ordnungsamts, mehr als eine halbe Stunde gebraucht, um den Automaten wieder freizulegen.“
Behrend breitete die Hände aus. „Das ist doch nur fair. Ich habe fast genau so lange gebraucht, um ihn einzupacken.“
Der Referatsleiter konnte sich angesichts dieses seltsamen Wettstreits ein Lächeln kaum verkneifen. Es schien, als würde dieser Behrend wenigstens allen auf die Nerven gehen, nicht nur ihm. „Wie dem auch sei“, setzte er an. „Wir wissen jetzt um Ihr Engagement. Können wir uns daher nicht darauf einigen, dass Sie in nächster Zeit erst einmal keine Eingaben machen? Und dass Sie mich das nächste Mal erst persönlich ansprechen, wenn Sie ein Anliegen haben?“
Behrend sah ihn nachdenklich an, dann nickte er. „Nun, nachdem Sie soviel Interesse für mich und meine Anliegen aufgebracht haben, kann ich Ihre Bitte kaum ignorieren. Ich werde also meine Aufmerksamkeit auf andere Dinge lenken. Für mich beginnt sowieso ein paar Wochen, in denen ich viel zu tun haben werde. Trotzdem, ich werde natürlich nicht auf meine Bürgerrechte verzichten…“ Der Referatsleiter wollte etwas sagen, aber Behrend redete weiter. „… was Sie ja auch nicht verlangt haben. Aber zumindest werde ich sie in den nächsten Wochen weniger oft ausüben - zumindest bis Ende August.“ Sein Lieblingsgrinsen begleitete diese letzte Bemerkung.
Der Referatsleiter sah ihn leidend an, nickte dann aber ebenfalls. „Ich denke, das sollte reichen. Es wird den Präsidenten sehr beruhigen, wenn ich ihm sagen kann, wie freundlich und einsichtig Sie sich in diesem Gespräch gezeigt haben.“
Wieder grinste ihn Behrend breit an und ging zur Tür. „Und das ist es doch, was wir beide wollen, oder? Also, bis zum nächsten Mal.“ Damit war er auch schon verschwunden, ehe der Referatsleiter klären konnte, ob der letzte Satz nicht vielleicht eine Drohung war.
Behrend eilte die Treppen hinunter und als er endlich wieder an der frischen Luft war, sah er, dass der Regen aufgehört hatte und dass noch reichlich Zeit war, bis er am Flughafen sein musste, um seinen nächsten Kunden abzuholen. Er musste sich also nicht beeilen.
Mit einem leichten Lächeln ging er zurück zu seinem Tiguan und lenkte ihn rasch auf die Berliner Allee und dann weiter Richtung Flughafen. Er freute sich auf die Begegnung mit dem Kunden, denn er war sich sicher, dass Colonel Daniel Kendrick-Wales ein interessanter Gast sein würde. Leider wusste Jarre in diesem Moment noch nicht, wer sich noch alles für den Colonel interessierte.
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Als Jarre wenig später am Vahrenwalder Platz vor einer Ampel stand und grimmig auf die lange Autoschlange vor ihm sah, hatte er wieder einmal Gelegenheit, sich einer seiner Lieblingsideen zu widmen - herauszufinden, welche wohl Hannovers langwierigste Straße war. Zugegeben, die Hildesheimer Straße mit ihren acht Kilometern Länge war sicher die längste Straße Hannovers, aber vermutlich nicht die langwierigste. Er hatte jedes Mal wieder den Eindruck, dass es weitaus länger dauerte, auf der deutlich kürzeren Vahrenwalder Straße voranzukommen. Auf dieser Straße war es schon ein Erfolg, wenn man sich beim Warten vor einer der vielen roten Ampeln sagen konnte, dass man für die letzte Ampel ja nur fünf Minuten gebraucht hatte und dass man sicher bei der überüberübernächsten Ampelphase auch die nächste Kreuzung passiert haben würde.
Ganz wie erwartet, hatte Jarre auch an diesem Morgen genug Zeit, seinen Gedanken nachzuhängen, wobei er auch immer wieder die Gelegenheit wahrnahm, in den Gesichtern der Leute zu lesen, die neben ihm hielten. Den besten Anblick bot heute eine eine Dame unbestimmbaren Alters, die ebenso stolz aus dem Auto schaute, wie der Windhund auf dem Sitz hinter ihr.
Als er den Mittellandkanal überquerte, kam er schließlich zu dem Schluss, dass Regen im Juli, Bürokraten am Morgen und Staus auf der Vahrenwalder seiner Laune weitaus abträglicher waren, als es gut für ihn war. Deswegen riss er sich zusammen und machte gute Miene zu noch einem Sommertag in Hannover, der keiner sein wollte.
Er war schon wieder ganz passabler Laune, als er seinen dunkelgrünen Tiguan Track & Field in das dunkle Gewölbe lenkte, das auf der Ankunftsebene des Flughafens als abschreckendes Modell eines Parkplatzes herhalten musste. Er quetschte sich zwischen einen maroden Golf und den schwarzen Mercedes einer Mietwagen-Firma, dann ging er missmutig zu dem Parkscheinautomaten hinüber, der seit einiger Zeit versprach, dass man sein Parkgeld wiederbekam, wenn man nur bereit war, im Flughafen noch mehr Geld auszugeben, wobei es immerhin um zehn Euro ging. ‚Von wegen‘, murmelte Behrend noch bevor er sehr zu seinem Vergnügen sah, dass der Automat außer Betrieb war und dass er somit kostenlos parken konnte. Selbst die Tatsache, dass wie immer kein Gepäckwagen da war, konnte seine sprunghaft gestiegene Laune nicht mehr trüben.
Im Terminal stellte er mit einem raschen Blick auf die Monitore fest, dass der Flug BE 1725 aus Birmingham pünktlich sein würde - noch eine positive Überraschung. Trotzdem, er hatte noch genug Zeit, sein Frühstück nachzuholen. Er fuhr also hinauf in die nächste Etage, wo er sich bei einem Mövenpick-Restaurant eine Tasse Kaffee und ein Brötchen bestellte. Als er seine Bestellung aufgab, freute er sich über das Schild über einer mit Eis gefüllten Wanne, das den edlen Wein des Restaurants mit den Worten fresh, healthy, natural anpries - da setzte doch endlich jemand die richtigen Prioritäten!
Als er mit seiner Bestellung an einem der hohen Tische Platz genommen hatte und über den Colonel nachdachte, malte Behrend sich aus, wie er wohl aussehen mochte. Der einzige Colonel, an den er sich erinnern konnte, war Alec Guinness in Die Brücke am Kwai. Irgendwie passte das auch zu dem Bild, das er sich von dem Colonel gemacht hatte, denn Alec Guinness wirkte immer ausgesprochen geheimnisvoll und die erste Nachricht des Colonels hätte fast schon aus einem Agentenfilm stammen können.
Die Nachricht war an Behrends Firma Deep Into It Tours gegangen, die ihren Kunden die einmalige Chance bot, kultur- und kunsthistorische Zeugnisse in Norddeutschland und dem Rest Europas auf ganz eigene Art zu erleben. Er hatte die Firma hauptsächlich zu seinem eigenen Vergnügen gegründet, nicht um viel Geld damit zu verdienen. Er hätte es nie zugegeben, aber Behrends Leben war viel einfacher geworden, seit er mit 18 Jahren 20 Prozent der Firma seines Vaters überschrieben bekommen hatte. Außerdem hatte er gleich nach seinem Studium erhebliche Provisionen dafür kassiert, dass er im Zweiten Weltkrieg verschwundene Kunstwerke wieder aufgetrieben hatte. Seitdem war er finanziell unabhängig und er wusste, wie abenteuerlich die Beschäftigung mit Kunst sein konnte. Ihm war auch klar, dass heutzutage das Abenteuer für viele Touristen in ihrem Urlaub im Vordergrund stand, selbst wenn es nur darum ging, die alten Stadtmauern von Hildesheim zu erkunden.
Daher hatte er ein Programm entwickelt, das seinen Kunden Kunst und Kultur durch abenteuerliche Exkursionen näher brachte. Dazu gehörten Klettertouren in den alten Bergwerken des Harzes genauso wie Kajaktouren auf den Flüssen, die durch die sehenswerten Städte Niedersachsens flossen. Natürlich gehörte auch die Suche nach Schätzen jeder Art in sein Programm, auch wenn er natürlich keine Erfolgsgarantien abgab, schon gar nicht, wenn die Kunden wieder einmal in irgendeiner Grube im Harz nach dem Bernsteinzimmer suchen wollten. Behrend erlaubte sich auch, sehr wählerisch zu sein, welche Kunden er annahm, denn für ihn selbst war der Erfolg und der Spass an seinen Touren fast noch wichtiger als für seine Kunden. Es war sinnlos, eine Tour durchzuführen, bei der er sich selbst langweilte und so verzichtete er lieber gleich darauf, solche Angebote überhaupt erst zu machen.
Colonel Kendrick-Wales war für Jarre ein interessanter und in vieler Hinsicht typischer Kunde. Er hatte anscheinend genug Geld, um sich seine Dienste leisten zu können, und er war versponnen genug, um mit Jarres Hilfe hinter den Geistern der Vergangenheit herzujagen. Die E-Mail, die er vor knapp zwei Wochen geschickt hatte, hatte Jarre besonders hellhörig gemacht. Alle seine Sinne hatten automatisch auf ‚Achtung! Interessanter Kunde!‘ geschaltet, als er die paar Zeilen las, die der Colonel auf Deutsch von einer englischen AOL Adresse geschickt hatte:
Ich biete ihnen die besten Grusse von Trevor Haines. Seine Nachricht ist ‚Roma Eterna‘. Rufen sie an unter 0044 − 205 − 555 9403. Das Angebot ist interessant.
Nicht nur die Telefonnummer, auch die etwas barocke Ausdrucksweise des Schreibers wiesen darauf hin, dass die Nachricht von einem Briten stammte, und zwar von einem, der sein Deutsch wohl nur mühsam gelernt hatte. Doch das war nicht das wirklich Spannende an der E-Mail, sondern der Hinweis auf Trevor ‚Indy’ Haines, der vor vielen Jahren Jarres erster Kunde gewesen war.
Jarre musste unwillkürlich lächeln, als er Trevor Haines dachte. Er hatte seinen Sohn, Gerald Haines, einen feingeistigen Snob, während seines Doktor-Studiums am Courtauld Art Institute in London kennen gelernt. Geralds Vater war ein Fast Food Millionär und konnte sich jeden Luxus leisten, den er wollte, und meistens hatte dieser Luxus etwas mit Geschichte oder Kunst zu tun. Nachdem Jarre Trevor Haines bei einer Party kennen gelernt hatte, hatte der Millionär immer wieder versucht, Jarres Hang zu unorthodoxen Ideen anzustacheln. Irgendwann gab Jarre sich dann geschlagen und erklärte sich bereit, Trevor zusammen mit Gerald an eine Stelle im Nettetal am sogenannten ‚Harzhorn’ zu führen, wo den Gerüchten nach einst eine Schlacht zwischen Römern und Germanen stattgefunden haben sollte. Trevor Haines, den seine Freunde nicht zu unrecht ‚Indy‘ nannten, war geradezu besessen von der Idee, dass er dort alte Römerhelme und Schwerter finden könnte.
Als er wieder in Deutschland war, fuhr Jarre daher ins Nettetal und entwarf anhand alten Kartenmaterials einen Plan, wo und wie er als römischer Feldherr die Germanen, die immerhin einst den großen Varus geschlagen hatten, angegriffen hätte.
Am nächsten Wochenende führte er ‚Indy‘ Haines an genau diese Stelle, wobei Gerald den leicht nöligen und gelangweilten Anhang bildete. Nach drei intensiven Stunden, die er, Gerald und ‚Indy‘ mit den neuesten Metalldetektoren, die Geld kaufen konnte, verbrachten, fanden sie - sehr zu Jarres Erstaunen - tatsächlich die reichhaltigen Überreste einer Römerschlacht. Dabei stolperten sie über mehr Römerrüstungen, als alle drei tragen konnten. Sogar Gerald Haines war begeistert, und ‚Indy‘ verdoppelte noch vor Ort Behrends Honorar, und Jarre selbst überlegte sich in den nächsten Tagen sehr lange, was er wohl richtig gemacht hatte.
Nachdem Haines sich einen reichlichen Finderlohn an römischen Schwertern und Helmen gesichert hatte und wieder abgefahren war, hatte Behrend noch ein paar Tage im Schock verbracht, bis er zwei Hobbyarchäologen, die er flüchtig kannte, einen Tipp gab und sie mit den Details des Fundes zum Harzhorn schickte. Kaum hatten die beiden ihre Entdeckung gemacht und sie an die Kreisarchäologin in Northeim gemeldet, wurde der Fund als archäologische Sensation gehandelt, die weltweit Schlagzeilen machte. Auf diesem Weg waren schließlich alle mit dem Ausgang des Abenteuers zufrieden waren, nicht nur die beiden neuen Entdecker des Schlachtfelds, sondern auch die eifrige Kreisarchäologin und selbst ‚Indy‘ Haines, dem die aufpolierten römische Helme in seinem Arbeitszimmer weitaus wichtiger waren als jeder Entdeckerruhm. Das ungewöhnliche Ergebnis dieser Tour und sein beachtliches Honorar überzeugten Jarre schließlich auch, dass er endlich einen Job gefunden hatte, der ihm wirklich lag.
Dass sich der geheimnisvolle E-Mail Schreiber auf dieses Abenteuer bezogen hatte, war vielversprechend gewesen. Noch interessanter war die Summe, die ihm Colonel Kendrick-Wales bei ihrem ersten Telefongespräch angeboten hatte, wenn Behrend sich nicht nur bereit erklärte, mit ihm zwei Woche lang deutsche Archive und bestimmte Orte im Harz aufzusuchen, die mit dem Zweiten Weltkrieg in Zusammenhang standen, sondern auch versprach, darüber absolutes Stillschweigen zu bewahren. Da das eine von Behrends leichtesten Übungen war, hatte er sich schnell bereit erklärt, den Colonel an die gewünschten Orte zu bringen.
Nachdem der Colonel ihm eine präzise Wunschliste übermittelt hatte, war eine arbeitsreiche Zeit für Jarre angebrochen, denn er hatte feststellen müssen, dass es recht schwierig war, die sehr detaillierten Wünsche des Colonels hinsichtlich der Exkursionen und Besichtigungen zu erfüllen, aber da man in diesen Tagen im Harz offenbar auf jeden Besucher Wert legte und nicht vorhatte, einen zahlungswilligen englischen Colonel mit ein paar kleinlichen Vorschriften abzuschrecken, konnte Behrend schließlich alle Termine arrangieren, selbst wenn es dazu mehrerer Ausnahmegenehmigungen bedurfte.
Die Begegnung mit dem Engländer würde also sehr interessant werden, das wusste Behrend. Als er wenig später mit dem Rest seines zweiten Kaffees in der Hand die Rolltreppe hinunter glitt, konnte er nicht ahnen, dass nicht nur er auf eine Begegnung mit dem Colonel wartete.
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