"Schatzjäger" - der Vorgänger von "Welfengold"

„Das mag sein“, stiess Jarre zwischen den Zähnen hervor. „Trotzdem haben sie gerade gewendet und folgen uns!“ Im Rückspiegel hatte er das gewagte Manöver gesehen, dass die anderen Autofahrer auf der Straße gezwungen hatte, scharf zu bremsen.

„Was?!“

Anna hörte das empörte Hupen und fuhr herum. Durch die Heckscheibe sah sie, wie der Wagen rasch zu ihnen aufschloss. Und noch etwas fiel ihr auf. 

„Oh-oh“, brummte sie, als sie sich wieder nach vorn wandte. „Sie haben Waffen, jedenfalls der Typ auf dem Beifahrersitz. Sieht unangenehm aus…“„Das dachte ich mir…“, behauptete Jarre und suchte nach einem Weg, auf der ewig verstopften Straße seinen Verfolgern zu entkommen. Ein Stück weiter vorne war eine Straßenbahn, die es ihm unmöglich machte, weiter vorzufahren, da zwischen die Straßenbahn und die parkenden Autos auf der Straße kein Blatt mehr passte, geschweige denn ein SUV. Umdrehen war auch ausgeschlossen, da sich gerade ein großer Bus aus der anderen Richtung ihnen näherte und die Russen dicht hinter ihnen waren. Dann aber sah er eine Möglichkeit…

„Verdammt, was machst du?!“, war alles, was Anna sagen konnte, als er plötzlich ausscherte und in die Einfahrt für Krankenwagen einbog. „Du kannst doch nicht…“

Dann schwieg sie, denn sie sah, dass er gar nicht vorhatte, auf das Krankenhausgelände zu fahren. Stattdessen preschte er den Fußweg lang und zog so an der Straßenbahn vorbei. Aber das war doch auch sinnlos! Er würde nie wieder durch die parkenden Autos einen Weg auf die Straße finden und weiter vorn gab es eiserne Pfähle, die den Weg versperrten! Einen Augenblick später quietschten auch schon die Bremsen und Jarre brachte den Wagen auf dem schmalen Grünstreifen zwischen dem Fußweg und der Fahrbahn zum Stehen. Offenbar wollte er gar nicht weiterfahren. Aber was…?

„Komm!“, herrschte er sie an und sprang aus dem Auto. Das liess sie sich nicht zweimal sagen. Sie umklammerte ihren Rucksack und lief Jarre hinterher, der bereits die nächste Straße überquerte.„Los, hier durch“, rief er und scheuchte sie durch eine schmale Öffnung, die sie auf einen Spielplatz führte. Jarre lief dann voraus, vorbei an futuristisch aussehenden Spielgeräten zum anderen Ausgang des Spielplatzes.Plötzlich fand sich Anna in einem schmalen Gang wieder, der zwischen den Hinterhöfen der umliegenden Häuser lag und den sie noch nie bemerkt hatte, obwohl sie in der Nordstadt wohnte.

Mit Jarre lernte man wirklich neue Ecken von Hannover kennen, dachte sie flüchtig, dann lief sie weiter, um Anschluss an ihn zu halten.Sie passierten gleich darauf einen niedrigen Torbogen, der sich zur nächsten Straße öffnete. Jarre spähte die schmale Straße hinunter und ließ einen höchst unwillkommenen Fluch hören.

„Mist“, knurrte er. „Sie sind schon da.“ 

Und tatsächlich sah Anna, wie weiter hinten der große Jeep gerade in die enge Strangriede einbog. Der Fahrer hatte offenbar nicht die geringsten Hemmungen, auch entgegen der Einbahnstraße zu fahren. Dann hatte der Fahrer des Jeeps sie auch gesehen. Er trat das Gaspedal durch, aber Jarre und Anna waren schneller. Sie sprinteten über die Straße und liefen in die nächste Gasse, die sich zwischen den Häusern öffnete und sich bald zu einem weiteren Spielplatz verbreiterte. Sie hoffte nur, dass die Barriere aus Eisenpfählen fest genug war, um den Jeep aufzuhalten.Sie sah noch einmal kurz nach hinten und sah, wie der Wagen direkt neben den Pfählen anhielt. Als im nächsten Moment neben ihr zwei Staubfontänen aufspritzten, wusste sie auch ohne die Schüsse selbst zu hören, dass die Männer im Jeep es ernst meinten.

Sie brach zur Seite aus, um sich nicht weiter zum Ziel zu machen, und hastete Jarre hinterher, der jetzt ein paar Meter vor ihr war und auf eine Hausecke zulief. Im nächsten Moment waren beide um die Ecke des großen Mietshauses verschwunden und außerhalb der Reichweite der Kugeln, die die Männer immer noch auf sie abfeuerten.

[…]

„Jarre und Anna waren schon einige Häuser weit gelaufen, ehe sie es endlich wagten, stehen zu bleiben und für einen Augenblick nach hinten zu sehen. Das Geräusch, das sie hörten, liess sie schließlich anhalten. Fassungslos sahen sie, wie der Jeep in voller Fahrt gestoppt wurde und wie sich einer der Begrenzungspfähle mit einem lauten Kreischen in die Motorhaube des Jeeps fraß, während der andere Pfahl sich in die Seite des Wagens grub. 

Schließlich gaben die Halterungen der beiden Pfähle nach und konnten den wütend aufheulenden Jeep nicht mehr aufhalten.Jarre sah als Erster, was los war. Er begriff, dass sein Trick nicht funktioniert hatte.„Das hat sie nicht gestoppt“, rief er und schob Anna vor sich her. „Nicht endgültig!“Jetzt sah Anna es auch. Der Jeep konnte wirklich noch fahren, die Fahrer schienen nicht einmal schwer verletzt zu sein, vermutlich dank der Airbags, die durch den Aufprall ausgelöst worden waren. Voller Entsetzen sah sie, wie der Jeep ein Stück zurücksetzte und wie sich das schwere Gefährt gleich darauf langsam vorantastete, um aus der Einfahrt herauszukommen, in die es eingezwängt war.

So schnell sie konnten rannten Jarre und Anna die Straße entlang und hielten auf den großen Bau zu, der sich als großer Block am Ende der Straße vor ihnen erhob und die Chemielabore der Universität beherbergte. ‚Historismus mit Elementen der Gotik und Renaissance’, ging es Jarre durch den Kopf, als sie weiterliefen, wofür er sich selbst verfluchte.

„Meinst du, die fallen zweimal auf das Gleiche hinein?", fragte er atemlos, als er für einen Augenblick direkt neben Anna die Straße entlang lief.

„Hast du gesehen, wie fanatisch der Kerl ausgesehen hat? Der kennt nichts mehr, außer dass er uns töten will“, behauptete sie keuchend. Jarre nickte kurz, da er ihre Meinung teilte. Wieder sah er sich um. Mittlerweile hatte sich der Fahrer des Jeeps aus der Toreinfahrt befreit und nahm nun Fahrt auf, wobei er ein eierndes Vorderrad unter Kontrolle bringen musste.

„Also gut. Egal was gleich passiert, lauf einfach weiter“, rief Jarre noch, dann hielt er auch schon auf die Mitte der Einmündung zu, die unmittelbar vor dem großen Bau lag. Er hatte den Fußweg auf der gegenüberliegenden Seite schon fast erreicht, als er plötzlich stolperte und hinfiel. Anna schrie entsetzt auf, denn der Jeep war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt und hielt genau auf Jarre zu.

Jarre wusste natürlich, dass sein Timing perfekt sein musste. Sein einziger Vorteil war es, dass der Jeep, der sie verfolgte, fast nur noch Schrott war und dass sein Fahrer ganz offenbar durch einen unglaublichen Hass auf ihn geblendet sein musste, einen Hass, der es ihm unmöglich machen würde, die Lage rechtzeitig zu begreifen, denn jetzt ging es um Sekundenbruchteile… Tzarkas sah, wie ihr erstes Ziel auf der Kreuzung zu Fall kam. Es war Behrend! Rasch sah er zu Leonow hinüber und sah, wie der Oberst triumphierend grinste und direkt auf den Mann zuhielt, der hilflos vor ihnen auf dem Boden lag.„Du bist tot!“, schrie Leonow und gab Gas. Das war der Moment, in dem es Tzarkas klar wurde, dass das eine Falle sein musste. Noch eine Falle!„Njet!", schrie er und wollte Leonow noch in das Lenkrad greifen, aber da war es schon zu spät.

„Anna blieb wie versteinert stehen, als sich die Szene vor ihr wie in Zeitlupe abzuspielen schien. Sie sah, wie Jarre fiel und wie der schwere Jeep wenige Meter von ihm entfernt noch einmal beschleunigte. Ein weiterer Schrei blieb ihr in der Kehle stecken, als sie sah, dass Jarre schon im nächsten Moment wieder aufsprang und auf das Chemiegebäude zulief. Wollte er durch das schwere eiserne Tor fliehen, das vor dem Eingang stand? Aber das war nicht auf, es war nie auf… Dann plötzlich sah sie, dass Jarre einen Sprung machte und im nächsten Augenblick erst auf, dann hinter einem der schweren Steinpfeiler war, die die Tore hielten. Ein wahres Kletterkunststück! 

Als er sprang, war der Jeep nur noch einen Meter von ihm entfernt gewesen, und jetzt, in dem gleichen Moment, in dem Jarre von dem Pfeiler wieder hinabsprang, raste der Jeep ungebremst in die Steinsäule. Anna sah, wie die Säule durch den Aufprall erst schwankte und dann ganz langsam einknickte. Die schwere Steinkugel oben auf der Säule löste sich und fiel mit einem hässlichen Krachen auf die Fahrerseite des Autos, und gleich darauf folgte ihr die gesamte Säule.

Als habe dieses Geräusch sie aus ihrer Erstarrung gelöst, wandte Anna ihren Blick von dem Jeep und dem schrecklichen Unfall ab. Ihre Augen suchten Jarre. Sie wusste, dass der ganze Unfall nur Sekunden gedauert haben konnte, aber es fühlte sich so an, als seien Stunden vergangen, seit er auf der Kreuzung gestürzt war. Doch dann sah sie ihn, wie er fröhlich grinsend und unverletzt hinter dem völlig verbogenen Zaun auftauchte und ihr zuwinkte.

Auszug aus «Schatzjäger» (2011 Version) von Rolf Aderhold.

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